„Tan!“ Eine Stimme hallte durch den, bis eben noch ziemlich gemütlichen Traum. Langsam öffnete ein Junge von zwölf Jahren noch leicht verschlafen seine Augen. Vor ihm stand eine lange, schlanke Frau, die ihn nicht gerade freundlich ansah. „Tan Omana. Du bist schon wieder im Unterricht eingeschlafen! Mir reicht es jetzt! Du meldest dich sofort beim Direktor!“
Tan blinzelte noch leicht verträumt zu der Frau, sah sich einen Moment lang in dem Raum um, in dem er saß und erhob sich dann langsam von seiner Schulbank. Die anderen Kinder in der Klasse lachten und tuschelten sich leise zu, während er den Unterrichtsraum verließ.
„Junge. Wo soll das denn hinführen? Das geht jetzt schon eine ganze Weile so! Wie soll denn ein guter Daccar aus dir werden, wenn du den ganzen Unterricht verschläfst?“ Der Direktor, ein älterer, schlanker Mann mit einer Frisur, der man ansah, dass seine Haarpracht immer mehr nachließ, saß mit Trauermine hinter seinem Schreibtisch. „Überleg doch mal: Du machst deinen Vater nur unheimlich unglücklich. Er verspricht sich doch so viel von dir. Weil er doch der Daccar-Lord ist...“
„Das ist mir doch egal!“ unterbrach ihn Tan plötzlich. „Ich möcht gar kein Daccar werden. Was will ich denn damit?“
„Junge, aber...“ Dem Direktor blieben die Worte stecken.
„Wenn sie nichts dagegen haben, werd ich dann mal gehen. In den Unterricht brauch ich nun sicher nicht mehr zurück, da es eh die letzte Stunde ist.“
Kaum hatte er das gesagt, war er auch schon aus dem Raum verschwunden und hatte die Tür hinter sich laut zuknallen lassen.
„Verdammt!“ Tan saß an einem Fluss, der in der Nähe seines Wohnhauses lag und warf Steine ins Wasser. „Wieso vergleichen die mich immer mit meinem Vater? Und ständig dieses Gerede von wegen Daccar! Als wenn…“ Er verstummte und ließ sein Gesicht zwischen seine Knie sinken. „Nur weil Vater einer ist, muss ich nicht auch einer werden, oder?“
Er tastete nach einem Stein in seiner Nähe und schleuderte ihn ins Wasser. Kurz bevor dieser in den Fluten verschwand, sah Tan auf und bemerkte ein kleines rundes Etwas, welches von der Strömung getrieben auf ihn zukam. Er sprang auf und erreichte mit zwei, drei Schritten das Ufer. Vorsichtig beugte er sich über die Wasseroberfläche und fischte mit seiner rechten Hand den geheimnisvollen Gegenstand heraus.
„Was ist das?“ Fragte er sich erstaunt. Er drehte den Wallnussgroßen Gegenstand in seiner Hand hin und her. „Sieht aus, wie die Perle eines ... Drachens.“ Die Perle maß knapp drei Zentimeter im Durchmesser. Sie leuchtete so weiß, wie der Mond Lumara kurz nach seinem Aufgang. Sie war eingehüllt von einem silbrigen Schimmer.
Viel Zeit blieb Tan nicht, sich in ihren Anblick zu vertiefen, denn aus der Richtung, aus der soeben die Perle gekommen war, flog ihm jetzt etwas Entgegen. Nur knapp über der Wasseroberfläche des Flusses flog ein weißer, etwa drei Meter langer Drache auf ihn zu.
Der Drache hatte Tan noch gar nicht bemerkt und es schien ihm, als suche er den Fluss nach etwas ab.
„Wow.“ Entfuhr es Tan. Er hatte zwar schon des Öfteren Drachen gesehen. Doch immer nur aus sicherer Entfernung. Und nie ohne ihren Daccar.
Jetzt bemerkte auch der Drache, dass er nicht alleine war und flog genau auf Tan zu.
„Hey, du! Hast du zufällig ...“ Der Drache stockte. „Da! Da ist sie ja!“ Er zeigte auf die Hand, in der Tan die Perle hielt. „Du hast sie gerettet! Vielen Dank. Ich habe sie aus versehen verloren. Äh. Könnt ich sie jetzt bitte wieder haben?“
Tan, der immer noch ganz erstaunt war, hörte ihn erst gar nicht.
„Hey…“ Der Drache winkte mit seiner Klaue vor Tans Augen. „Hey, bekomme ich meine Perle wieder?“
„Oh...klar!" Verdutzt hielt Tan dem Drachen die Perle entgegen.
„Ich hatte schon Angst, sie nie wieder zu finden. Das wäre echt schrecklich gewesen! Wie ist dein Name, Junge?“
„Äh... ich... ich... heiße Tan. Tan Omana.“ stammelte er.
„Tan also. Das ist ja nicht gerade ein origineller Name.“
„Na und?“ fragte Tan trotzig, der wieder Mut gefasst hatte. „Mir gefällt er.“
„Naja. Warum nicht?“ meinte der Drache nur und setzte sich neben Tan. „Mein Name ist Dagôn.“
Tan warf seinen Blick gen Himmel und überlegte. „Den Namen hab ich doch schon mal gehört. Ich kann mich nur nicht so recht erinnern, wo.“
„Was denn? Ich wusste gar nicht, dass ich so berühmt bin.“ warf Dagôn ein. „Sogar in dieser öden Gegend.“
„Von wegen öde. In drei Wochen ist hier wieder eine ganze Menge los! Da sind nämlich wieder diese blöden Wettkämpfe, wo die anderen ihre Daccar-Lizens haben wollen. Ich find das unsinnig! Die lassen Drachen für sich kämpfen und bekommen dann dafür Auszeichnungen.“
"Naja. Eigentlich bin ich genau deswegen hier. Ich bin gerade auf der Suche nach einem Daccar. Ich habe nämlich meinem Vater etwas versprochen. Und er meint, dass ich das nur schaffen kann, wenn ich von einem Daccar trainiert werde.“
„Hm? Was denn?“ fragte Tan neugierig.
„Ich habe meinem Vater versprochen, dass ich erst wieder ins Drachental fliege, wenn ich eine purpurne Perle habe.“
Tan kratzte sich verlegen am Kopf. Er wusste zwar, dass Perlen von ihrer weißen Grundfarbe grau und schließlich auch schwarz werden konnten. Aber dass diese auch noch andere Farbtöne bekommen konnten, war ihm neu. „Und wie bekommt man die?“ fragte Tan erstaunt.
„Du bist lustig! Die bekommt man nicht einfach so. Perlen werden nur dann purpurn, wenn ein Daccar und ein Drache eine so feste Bindung zueinander haben, dass die beiden genau wissen, was der andere denkt. Wenn sie so eng zu einander Stehen, dass sie die Gedanken des anderen spüren können, passiert es, dass eine schwarze Perle plötzlich purpurn aufleuchtet und dann für immer diese Farbe behält. Zumindest sagt das mein Vater. Er hat nämlich eine. Und da ich von meinen Geschwistern immer nur gehänselt werde, hab ich beschlossen, ihnen zu zeigen, dass ich auch etwas kann. Aber wie gesagt, um eine purpurne Perle zu bekommen, muss ich erst einmal einen Daccar finden, der mir dabei hilft.“
„Und deswegen bist du also auf deiner Suche danach hier her gekommen. Hast du denn schon jemanden gefunden, der dir dabei hilft?“
Dagôn sah ihn mit traurigem Blick an. „Nein, noch nicht. Aber ich hoffe, dass ich jemanden bei diesem Turnier finde.“
„Da wirst du da aber nicht sehr viel Glück haben. Alle, die dort mitmachen, müssen schon eine Woche vorher den Namen des Drachen angeben, der sie dabei unterstützt.“
„Oh. So ist das also. Jetzt versteh ich wenigstens, warum mein Bruder gelacht hatte, als ich ihm von meinen Plänen erzählte.“ Dagôn sank enttäuscht zusammen und starrte dem wirbelnden Wasser des Flusses hinterher. „Dann kann ich das ja wohl alles vergessen. Meine Geschwister hatten Recht. Ich tauge zu überhaupt nichts!“
Tan schaute den Drachen eine Weile lang stumm an und erhob sich dann.
„Nur Mut! Du findest schon noch jemanden. Und wenn nicht. Nun ja. Vielleicht könnte ich dir ja dabei helfen. Ich will zwar eigentlich kein Daccar werden. Aber vielleicht muss man das ja auch gar nicht, um mit einem Drachen zusammen zu leben.“
Dagôn sah den Jungen überrascht an. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Plötzlich sprang er auf und stieß Tan dabei fast zu Boden. „Das würdest du wirklich machen?“
„Warum nicht? So etwas ist sicher möglich. Zur Not frag ich einfach meinen Vater. Der ist der Daccar-Lord. Er kann mir das mit Sicherheit sagen.“
„Was denn? Dein Vater ist der Daccar-Lord?“ Dagôn sah ihn erstaunt und überrascht zugleich an.
Tan nickte. „Meine Eltern sind beide Daccar. Früher sind sie gemeinsam durch die Länder gezogen. Erst ein paar Jahre nach meiner Geburt hatte sich meine Ma einen anderen Beruf gesucht, bei dem sie zu hause bleiben konnte. Mein Vater reist aber immer noch herum. Und da er eben der Daccar-Lord ist, denken alle, ich müsste auch ein Daccar werden. Am besten auch noch so einer, der mal in seine Fußstapfen tritt.“
Tan war schon stolz darauf, dass seine Eltern Daccar waren. Aber er mochte es absolut nicht, ständig mit seinem Vater verglichen zu werden.
„Freust du dich nicht, dass dein Vater so jemand berühmtes ist?“ fragte Dagôn.
„Doch. Natürlich! Aber ich kann es nicht leiden, dass alle über meine Zukunft entscheiden, ohne mir eine Chance zu geben, mich selbst in irgendetwas zu beweisen.“
„Hm. Aber irgendwie verstehe ich dich! Mein Vater ist der älteste Drache, der auf Ason lebt. Und deswegen denken die anderen Drachen auch sofort, dass jedes seiner Kinder was besonderes sein muss. Und da alle meine Geschwister schon irgendetwas „Wichtiges“ erreicht haben, passe ich da nicht wirklich rein. Ich bin so was, wie das Nesthäkchen der Familie.“
Tan schaute den Drachen einen Moment lang stumm an. Dann reckte er sich und nickte dem Drachen lächelnd zu. „Dann lass uns zu mir nach hause gehen. Von dort ruf ich meinen Vater an und frag ihn, ob ich dir helfen kann, deine purpurne Perle zu bekommen!“
Dagôn nickte und folgte dem Jungen voller Freude.