-Kapitel 5-
Jacc und Tan standen am Rand des Plateaus, auf dem Tan am ersten Tag trainiert hatte. Vor ihnen befand sich eine etwa zehn Meter breite Schlucht, deren Boden man nicht sehen konnte. Etwa zwanzig Meter in der Tiefe stand eine Art Nebelwand, die den Blick auf tiefer gelegenes blockierte. Nur von sehr leise hörte man ein Grummeln, was scheinbar von einem Fluss stammte, der sich weit unten durch die Berge schob.
Hier nun sollte Tan lernen, mit seinem Blut umzugehen. Doch ein klammes Gefühl in seiner Magengegend sagte ihm, dass er sich nicht all zu sehr darauf freuen sollte.
„Bist du bereit?“ Jacc hatte seine Drachenflügel wieder draußen und sah, wie in Gedanken versunken, in die Tiefe.
Tan nickte zögernd. Doch dann schüttelte er sofort mit dem Kopf. „Nein ... ich ... ich weiß doch gar nicht, wie ich diese Flügel und alles aus meinem Körper herausholen soll und ...“
Weiter kam er nicht. Jacc hatte ihn plötzlich gepackt und nach vorne geworfen. Direkt in die Schlucht. Jacc rief ihm etwas zu, aber der Wind verzehrte die Worte, sodass er nicht verstand, was es war.
Tan war vor Schreck viel zu gelähmt, um irgendwie zu reagieren, oder auch nur um Hilfe zu schreien. Voller Furcht hatte er seine Augen geschlossen, um nicht zu sehen, wohin er fiel. Doch als er seine Augen wieder öffnete und direkt in die Tiefe sah, überkam ihn plötzlich wahnsinnige Angst. Das jedoch löste etwas in seinem Körper aus. Er spürte eine gewaltige Kraft durch sich fließen und plötzlich kam es ihm so vor, als schwebe er.
Doch was ihm zuerst nur so vorkam, war Wirklichkeit. Er schwebte. Verwirrt sah er nach oben, da er glaubte, Jacc wäre ihm gefolgt und hätte ihn aufgefangen. Doch der stand noch oben auf dem Plateau. Stattdessen versperrten andere Flügel seine sich. Solche, wie Jacc hatte. Nur waren sie an seinem Körper.
„Was...?“ Tan erstarrte. Er hatte Flügel! Klar. Schließlich war er jetzt selbst ein Halbdrache. So, wie Jacc. Er konnte es nur irgendwie nicht glauben.
„... egen!“
Tan hörte, dass Jacc ihm etwas zurief. Doch hatte er nur den letzten Fetzen verstanden. Aber selbst so wusste er, was das heißen sollte. Er war aus seiner Erstarrung erwacht und versuchte nun langsam, seine Flügel zu bewegen.
Was aber eindeutig leichte gesagt, als getan war. Durch seine plötzliche Bewegung verlor er das Gleichgewicht und taumelte nun mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft genau auf die Felswand vor ihm zu, ohne sich irgendwie abbremsen zu können.
Doch kurz, bevor Tan auf der Wand aufschlug, merkte er, wie sich ein Paar Arme um seinen Oberkörper schlangen.
„Wah!“
„Ruhig!“ Jacc stieß sich mit einem Flügelschlag von der Tiefe ab und flog, mit Tan im Arm, wieder nach oben.
„Warum hast du nicht das gemacht, was ich dir zugerufen habe?“ fragte er ein paar Minuten später oben auf dem Plateau.
Tan saß weit in der Mitte dessen, um sich sicher zu sein, dass er nicht wieder dort runter fallen konnte. Er war ein wenig benommen und schaute mit einem seltsam leeren Blick in den Himmel. Er konnte es noch nicht so richtig glauben, was er da gerade durchgemacht hatte.
Er schüttelte plötzlich seinen Kopf, wie als wenn er damit hoffte, all das zu vergessen.
„Hey!“ Jacc kam ein paar Schritte auf ihn zu und kniete sich vor ihm nieder. „Wäre ich nicht in letzter Sekunde zur Hilfe gekommen, wärst du mit voller Wucht gegen den Rand geflogen. Was sollte das? Wieso hast du ni...“
„Wieso zum Teufel hast du mich da runter gestoßen?“ unterbrach ihn Tan. Er blickt ihn wütend an. „Hätte ich diese Flügel nicht plötzlich gehabt, wäre ich jetzt nur noch ein Fettfleck irgendwo am Boden dieser Schlucht!“
Er bemerkte, dass seine Hände plötzlich angefangen hatten, zu zittern. Er hielt seine Knie fest, um es aufzuhalten, doch stattdessen wurde es noch schlimmer. Sein ganzer Körper fing langsam an und steigerte sich noch ein wenig. Mit Schmerz verzogenem Gesicht und zugedrückten Augen krümmte er sich immer mehr nach vorne, sodass er fast vorüber kippte. Jacc fing ihn auf und legte seine Handfläche auf sein Gesicht. So saßen sie ein paar Sekunden regungslos da, als Jacc leise etwas flüsterte, wovon Tan nur ein paar kleine Bruchstücke heraus hörte. Der alte Halbdrache sprach wieder in dieser seltsamen Sprache. Doch nur wenige Sekunden danach hörte das Zittern nach und nach auf und ein paar Augenblicke später war es vollkommen verschwunden.
„Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass dir das so sehr auf den Magen schlägt. Aber auch so hätten wir etwas in der Richtung durchführen müssen. Es kann sehr gefährlich sein, wenn man das Blut nicht vollständig erweckt.“
„Aber...“ Tan hielt sich seine Hand vor den Mund, als wenn ihm plötzlich schlecht werde. Dann sah er mit gequältem Blick zu Jacc.
„Ich… ich glaube nicht, dass ich mich zum Halbdrache eigne. Ich ... ich kann nicht Fliegen!“ Den letzten Satz hatte er mit gesenktem Blick ausgesprochen.
„Ach was!“ Jacc sah ihn etwas lächelnd an und legte seine rechte Hand auf Tans Schulter. „Es kann nicht jeder sofort fliegen! Selbst ich brauchte eine ganze Weile, bis ich es konnte. Auch, wenn es von klein auf ist.“
„Das ist es nicht.“ Tan schüttelte vorsichtig seinen Kopf. „Ich… ich habe Höhenangst!“
Jacc riss vor Überraschung seine Augen auf und blickte den Jungen verwundert an. „Aber du bist doch schon ein Paar Mal geflogen. Auf Dagôn und… und auf Cergis. Da hattest du doch auch nicht…“
„Doch! Aber nicht so doll, dass mir gleich schlecht dabei wurde. Ein wenig mulmig schon. Aber ich hab darüber nicht weiter nachgedacht, zu dem Zeitpunkt zumindest. Erst ab einer gewissen Höhe und Geschwindigkeit.“ Er sah zum Rande der Schlucht und wieder zu seinem Lehrer. „Und das eben lag sehr weit über diesem Punkt!“
„Und wieso hast du mir das nicht vorher gesagt? Dann hätte ich einen anderen Weg gesucht, um dein Blut vollkommen zu erwecken.“
„Ich hatte es vergessen.“ Gab Tan kleinlaut zu. „Ich wusste zwar, dass da irgendwas war, was in mir Alarm schlug, aber den Grund dafür hatte ich irgendwie vergessen.“
„Wie zum Teufel kann man vergessen, dass man Höhenangst hat?“ fragte Jacc mit hochgezogenen Augenbrauen. „So etwas vergisst man doch nicht.“
Tan zuckte nur mit seinen Schultern. Er wusste ja selbst nicht, wieso er seine Höhenangst vergessen hatte.
Nach einer kleinen Ruhepause stellte sich Jacc wieder aufrecht hin und sah nachdenklich in die Richtung der Schlucht. „Zumindest kannst du jetzt deine Flügel herausholen. Das ist schon mal ein großer Schritt. Nur haben wir jetzt dafür ein neues Problem.“ Er kratzte sich an seinem Hinterkopf und sah seufzend zu Tan herunter, der noch immer zusammengekauert auf dem Boden saß.
„Ich hatte aber auch erwähnt, dass es Schmerzhaft werden könnte. Die schnelle Variante der Erweckung ist nicht allein der Energiestoß! Da kommt noch so einiges auf dich zu. An erster Stelle steht jetzt die Tatsache, dass du mit deinen neuen Fähigkeiten klar kommen musst. Und das am besten so schnell, wie möglich.“
Er tätschelte Tan ein wenig auf den Kopf, worauf dieser mit mürrischem Blick zu ihm aufsah. Doch Jacc grinste daraufhin nur.
„Was denkst du? Kannst du jetzt weiter machen?“ fragte er knapp, als Tan ebenfalls aufstand.
„Ja. Ich denke schon. Aber nur solange ich nicht wieder in die Schlucht geworfen werde.“
„Nun. Was das angeht, kann ich dich beruhigen.“ Sagte Jacc lächelnd. „Zu aller erst wirst du dich wohl an das neue Gewicht gewöhnen müssen. Ich denke mir mal, dass du momentan so einige Probleme damit hast, nicht nach hinten zu kippen. Das Gefühl wirst du vor allem am Anfang haben, wenn du deine Flügel draußen hast. Aber keine Angst! Nach einer Weile wirst du dich immer mehr daran gewöhnen und dann ganz von selbst ein Gegengewicht erstellen.“
„Und wie genau kann ich mich daran gewöhnen?“ fragte Tan unsicher. Er hatte in der Tat Probleme, so ruhig zu stehen.
„Indem du sie jetzt die ganze Zeit draußen lässt. Zumindest erst einmal für die nächsten Tage. Und wenn du das Gewicht nicht mehr aushalten kannst, solltest du dich hinlegen. Die Flügel dabei aber draußen behalten.“
„Und wie soll ich da bitte schlafen?“
„In dem du dich ganz einfach auf den Bauch legst. Oder kannst du das nicht?“ Den letzten Satz hatte er mit einer Mischung aus Lächeln und Grinsen gesagt. Er schüttelte mit seinen Kopf, als Tan darauf etwas antworten wollte und drehte sich gleichzeitig mit seinen ersten Schritten zum gehen um. „Na los! Weiter geht’s!“
Tan grummelte noch etwas leise vor sich hin und erhob sich dann langsam schwankend.
„Weißt du noch, was du hier am ersten Abend gemacht hast?“ fragte ihn Jacc, währen er grinsend ein paar kleine Steine zusammen suchte.
„Nein!“ schrie Tan ihn regelrecht an. „Bitte nicht!“
Jacc sah auf und schüttelte seinen Kopf. „Diesmal musst du sie nur fangen. So wie du noch herum torkelst, würdest du nicht einem wirklich ausweichen können. Und dadurch tätest du dich am Ende nur verletzen.“
Er wog einen der Steine in seiner rechten Hand und hob erwartungsvoll seine Augenbrauen. „Bist du bereit?“
„Nein. Natürlich nicht.“ Antwortete ihm der Junge treuherzig. Er hatte Mühe, auf einer Stelle stehen zu bleiben ohne nach hinten zu kippen. Als Jacc den ersten Stein warf, hatte er Probleme, sich überhaupt in die gewünschte Richtung zu bewegen.