Kapitel 7
Sie kamen nicht einmal bis zu den Seen, an denen sie am zweiten Tag der Trainingszeit gewesen waren, als Tan vor Schmerzen und Erschöpfung landete. Als die beiden anderen neben ihm landeten, schaute er sie deshalb missmutig an.
„Entschuldigung.“ brachte er murmelnd heraus. „Ich… ich brauch nur eine kleine Pause. Dann kann ich sicher wieder fliegen.“
„Ach was.“ In den Worten von Jacc waren keine Anzeichen von Ironie zu hören. „Dafür, dass du deine Flügel erst seit wenigen Tagen hast, ist das schon eine beachtliche Leistung, was du uns hier gezeigt hast.“
Tan sah ihn fragend an. „Ja, aber ich … Wir sind doch nicht mal bei den Seen. Was ist denn daran bitte beachtlich?“
Dagôn trat neben ihn und schaute kurz zurück, als wenn er so die Strecke bis zur Höhle sehen könnte. „Na ja. Ich glaube, was Jacc damit meint, ist, dass du einfach noch nicht genug Kraft in deinen Flügeln haben kannst, um wirklich die gesamte Strecke zu schaffen. Und um ehrlich zu sein. Ich hatte schon viel eher mit einer Landung gerechnet. Du bist wirklich weit gekommen.“ Schloss er mit einem breiten Grinsen, soweit so was für einen Drachen möglich war.
Jacc nickte und legte seine Hand auf Tans Schulter. „Deine Muskeln sind noch nicht so weit trainiert. Das ist in etwa wie bei einem Fußbruch. Du kannst wegen einem solchen nicht mehr auftreten. Und deshalb schlaffen deine Muskeln. Und wenn man dann nach der Heilung sofort wieder loslaufen will, als wenn nichts gewesen wäre, fällt man unsanft auf die …“ Jacc verkniff sich gerade noch den Ausdruck, der auf seiner Zunge lag. „… auf die Nase.“ Schloss er dann grinsend.
Tan schaute die beiden grübelnd an und senkte dann seinen Kopf. „Trotzdem. Ich halt euch doch nur auf. Ich…“
„Das hatten wir alles mit eingeplant.“ Unterbrach ihn der alte Halbdrache. „Und aufhalten tust du uns sicher nicht. Schließlich fliegen wir ja nur
deinetwegen in das Drachental.“ Er lächelte den Jungen sanft an. „Den Rest der Strecke kannst du dich auf Dagôns Rücken ausruhen. Und wenn du später unbedingt noch einmal fliegen möchtet, kannst du dass dann immer noch machen.“
Wie auf ein Stichwort breitete Dagôn seine Schwingen am Boden aus, um Tan auf seinen Rücken steigen zu lassen. Tan sah zwischen ihm und Jacc einen Moment lang ratlos hin und her und stieg dann, ohne weiter zu fragen auf den Rücken des Drachen.
Sehr zu seiner Freude durfte er nun zum ersten Mal seine Flügel einziehen, die er bis dahin ununterbrochen ’draußen’ gehabt hatte. Jacc hatte ihm erklärt, dass er sich nur zu wünschen brauchte, dass sie wieder ’drinnen’ waren. Und kaum hatte er es sich gewünscht, oder eher vorgestellt, spürte er ein leichtes ziehen in seinem Rücken. Dann waren sie weg und es gab kein Anzeichen mehr, dass er jemals Flügel gehabt hatte.
Dagôn grinste, als er das überraschte Gesicht seines Freundes sah, sagte aber nichts weiter dazu sondern hob nun mit leicht wackligen Beinen vom Boden ab und flog neben Jacc weiter in Richtung seiner Heimat.
Nur wenige Minuten später war Tan so erschöpft, dass er erst meinte, er fliege selbst noch mit. Doch Jacc meinte, dass dies nur Nachwirkungen seinen. Er zuckte noch mal kurz mit seinen Schultern und schlief erschöpft auf dem Rücken des Drachen ein.
Eine ganze Weile später wachte er auf und blickte überrascht auf eine Ebene hinunter, welche vollkommen von Gras und kleineren einzelnen Sträuchern bewachsen war. Weit in der Ferne konnte er kleinere Seen und Flüsse ausmachen, welche aus den umgrenzenden Gebirgen kamen.
Tan setzte sich vorsichtig auf und schaute weiter über Dagôns Schulter. Unter ihnen befanden sich kleinere Trampelpfade. Als er den Drachen darauf ansprach, lachte dieser. „Trampelpfade? Du bist lustig. Wenn wir jetzt da unten wären, würdest du sie nicht nur Trampelpfade nennen. Das ist der Nordpass. Der einzige Weg, der vom Königsgebirge direkt aus dem Drachental führt.“
Jacc sah zu den beiden rüber und blickte dann ebenfalls nach unten. „Einst war dies der größte Handelsweg. Er führte ursprünglich bis zum Großen Hage.“
Auf Tans erstaunten Blick hin, lächelte er und fuhr fort: „Zudem gab es noch einen ebensolchen Pass, der vom Süden her nach Norden verlief. Doch den gibt es nicht mehr. Die Menschen hielten sich damals nur in den Gebieten auf, die am Meer oder an Flüssen lagen. Die Wege durch die Gebirge waren ihnen zu schwierig. Deshalb wurden die Pässe eher von Drachen oder Nomaden benutzt. Aber nachdem sich die Drachen größtenteils in das Drachental zurückgezogen hatten, verschwanden die Spuren der Pässe mit der Zeit.“
„Und der Nordpass existiert auch nur noch, weil es hier eben genug Erddrachen gibt, die ihn gelegentlich benutzen.“ Fügte Dagôn hinzu.
Tan sah wieder nach unten und zog plötzlich seinen Kopf zurück. Dagôn warf überrascht seinen Blick nach hinten, als er merkte, wie sein Freund sich an ihn klammerte.
„Was hast du?“ fragte er nervös.
„Höhenangst.“ Das Wort war nur schwach zu hören, so leise sprach Tan es aus. „Ich hab es schon wieder vergessen gehabt.“
Jacc grinste daraufhin nur und deutete dem Drachen, zu landen.
Auf dem Boden angekommen versuchte Tan so schnell, wie möglich vom Rücken des Drachen herunter zu kommen, ohne ihn dabei zu verletzen. Doch kaum, dass er wieder auf seinen Beinen stand, fiel er nach vorne und konnte nur knapp verhindern, auf seinem Gesicht zu landen. „Autsch! Was zum…?“ Er kniete sich langsam auf und blickte verwirrt nach oben. „Was war denn das jetzt?“ fragte er mehr an sich gerichtet. Doch Jacc hockte sich nur grinsend vor ihm hin. „Kleine Gleichgewichtsstörung. Du hattest die letzten Tage ununterbrochen mit dem Gewicht deiner Flügel zu kämpfen. Und nun, wo du sie nicht mehr draußen hast, muss sich dein Gleichgewichtssinn erst einmal wieder daran gewöhnen.“ Er tätschelte seinen Schüler leicht auf den Kopf und stand dann wieder auf. „Wird schon noch.“ Sagte er lächelnd. „Den Rest des Weges gehen wir zu Fuß.“ Fügte er noch hinzu und sah dabei in Dagôns entsetztes Gesicht.
„Den ganzen Weg? Bist du verrückt? Dann sind wir doch morgen noch nicht da.“
Jacc hob seine rechte Augenbraue und antwortete ihm nur Augenzwinkernd: „Na dann sollten wir uns doch lieber beeilen, nicht?“ und lief los.
Dagôn sah ihm fassungslos nach und schaute dann zu Tan. „Der ist doch total verrückt geworden, wenn du mich fragst. Will der doch tatsächlich von hier aus bis zum Königsgebirge laufen.“
Tan sah den Drachen fragend an. „Was ist das Königsgebirge?“
„Ein vollkommen vom Tal umrundetes Gebirge in der Mitte vom Drachental. Dort leben die ältesten der Drachen, wie zum Beispiel mein Vater. Ich hatte dir doch schon mal davon erzählt, oder?“
Tan dachte einen Moment lang nach. „Ich weis es nicht mehr genau. Aber ist das wirklich so weit? Wieso fliegen wir nicht einfach weiter?“
Dagôn sah wieder in die Richtung, in welche Jacc schon eine beachtliche Entfernung zurückgelegt hatte und blickte dann wieder zu Tan. „Ich glaub, damit du dich wieder an dein Gleichgewicht gewöhnst… und wegen deiner Höhenangst, nehme ich mal an.“ Dann zuckte er leicht mit seinen Schultern und deutete seinen Freund an, loszulaufen. „Sonst kommen wir wirklich nicht mehr vor übermorgen an.“
Tan stand langsam auf und stützte sich beim laufen anfangs noch an den Drachen. Doch nach wenigen Metern konnte er schon wieder ohne Hilfe, wenn auch mit sehr langsamen und unsicheren Schritten, laufen.