»Uiuiui. Das war knapp!« kicherte er leise und steckte mir dabei keck seine spitze Zunge heraus. »Wobei ich es ein wenig schade finde, dass du so einfach weg gelaufen bist. Ich hätte schon gerne gesehen, was du tun würdest, wenn dein Großvater das alles heraus gefunden hätte.«
Ohne weiter auf diese kleinen Sticheleien einzugehen, sah ich den Drachen einen Moment lang stumm an und versuchte meine unruhigen Gedanken zu kontrollieren. »Warum soll ich denn schon heute von hier weg gehen?« fragte ich ihn schließlich gerade hinaus, denn ich verstand noch immer nicht, warum Dagôn das wollte. Hier in meiner Heimatstadt hätte ich doch bis zum Turnierbeginn beste Möglichkeiten mit ihm zu trainieren. Und mein Vater würde sicher auch ein paar mal dabei aushelfen. Ein besseres Training konnte ich mir im Moment nicht vorstellen.
Zudem gab es da noch etwas... »Wenn wir schon heute aufbrechen, dann sehe ich doch meine Mama nicht mehr. Oder meinem Vater. Und die beiden wollen doch sicher auch erfahren, ob ich es geschafft habe oder nicht. Außerdem ist mein Vater endlich nach langer Zeit mal wieder zu hause und ...« Ich brach ab und senkte meinen Kopf betrübt.
»Na die beiden werden doch sicher beim Turnier dabei sein, oder? Und was die Tatsache angeht, ob du den Test bestanden hast, oder nicht, werde sie sicher auch schon längst wissen. Meinst du nicht auch?«
Ich nickte nur knapp, war mir aber nicht ganz sicher. Schließlich wusste mein Großvater sonst auch immer alles vor mir, wenn es meine Ausbildung zum Daccar betraf. Aber vorhin war er sichtlich überrascht über das Ergebnis. Konnte es also sein, dass auch meine Eltern noch nichts davon wussten. Hmm. Mein Vater vielleicht. Schließlich leitete er die Vorbereitungen für das Turnier und hatte somit sicher schon von meinem Bestehen erfahren. Zumindest wenn der Direktor die Bestätigung schon eingereicht hatte.
»Zumindest du solltest vorher, also bevor dieses Turnier beginnt, noch etwas trainieren. Und noch bei jemandem vorbei schauen.« Unterbrach Dagôn meine Gedanken. Ich sah auf und ihm noch immer verwirrt in die großen jadegrünen Augen, welche direkt auf mich gerichtet waren.
»Wieso noch trainieren? Ich bin doch gut im Kampf.« Konterte ich automatisch. Ich dachte bisher immer an ein Training zusammen mit Dagôn. Doch dieser hatte im Zusammenhang mit dem Training gerade eben nur mich genannt.
»Das schon. Aber du wirst nicht sehr viele Chancen haben. Es sind sicher auch ein paar Teilnehmer dort, die in den letzten Jahren den Schritt zum Daccar-Anwärter nicht geschafft haben. Und die wissen bereits, was auf sie zukommt und haben sicher das ganze Jahr trainiert.«
»Oh. Stimmt ja.« Dies machte Sinn. Dann viel mir ein, was er gerade noch gesagt hatte. »Äh … aber bei wem müssen wir denn vorher noch einmal vorbei schauen?«
»Bei einem Freund von mir. Er wohnt auf einem der Berge, die hier sind.«
»Auf einem der Berge? Du bist lustig. Wir wohnen hier im Gebirge. Hier sind überall Berge.«
»Ich werde dir den Weg zeigen. Er ist selbst ein Daccar. Ein sehr guter Freund meines Vaters. Sicher wird er dir ein paar Tipps geben, wie du noch besser wirst. Bestimmt trainiert er dich auch, wenn ich ihn nett frage.«
Ich blinzelte ein paar mal um dies alles auf mich einwirken zu lassen, was er mir eben gesagt hatte. Gleichzeitig kam ein Gespräch der letzten Tage in mein Gedächtnis zurück, was mich innehalten lies. »Wenn er ein Freund deines Vaters ist, dann muss er ja eigentlich auch ziemlich alt sein, oder? Da Menschen ja seit über fünfzig Jahren nicht mehr ins Drachental dürfen und dein Vater nur noch im Drachental bleibt. Wie soll so ein alter Mann mich denn noch ordentlich trainieren können?«
Darauf hin kicherte Dagôn leise. »Ich weiß nicht, wie alt er ist. Aber ich kenne ihn schon seit ich ganz klein bin. Und er kann dich ganz bestimmt noch sehr gut trainieren. Daran besteht kein Zweifel.«
»Wow!« Das verschlug mir die Sprache. Dann wurde ich misstrauisch und fragte nach: »Sag mal ... wie alt bist du eigentlich?«
Zweihundertdreizehn. Wieso?«
»Zweihunder...?« Ich erstarrte und sah den Drachen perplex an. »Es gibt doch keinen Menschen, der so alt werden kann! Bist du dir sicher?«
»Ja! Er kann so alt werden, weil er ein Halbdrache ist.«
»... Ein Halbdrache?«
Dagôn nickte nur, als wenn es das natürlichste auf der Welt wäre, was er mir da eben gesagt hatte. »Halbdrachen können auch sehr alt werden. Es gibt ziemlich viele auf Ason. Aber sie sehen alle wie Menschen aus, deswegen fallen sie nicht auf.«
»Ich kann mir das gar nicht vorstellen.« Stirnrunzelnd verschränkte ich meine Arme vor der Brust und schüttelte ungläubig meinen Kopf. »Wie kann man denn ein Halbdrache werden?«
»Keine Ahnung. Meistens haben sie schon seit ihrer Geburt Drachenblut in sich. Aber so, wenn man nur Mensch ist, weiß ich es nicht.« Dagôn schien plötzlich nicht mehr bei diesem Thema verweilen zu wollen. War es ihm vielleicht unangenehm, dass er mir so etwas gesagt hatte? Vielleicht, weil ich bis eben noch nie etwas von Halbdrachen gehört hatte? Er sah immer wieder in die Richtung des Fensters hinauf in die Berge, welche sich nicht sehr weit von unserem Haus befanden. »Aber nun sag mal. Gehst du nun schon heute los? Wir haben nicht viel Zeit bis zum Turnier. Und es zählt jeder Tag!«
Ich folgte seinem Blick aus dem Fenster und ließ mir alles noch einmal durch den Kopf gehen. Es wäre doch schon interessant zu erfahren, was das ist, ein Halbdrache. Schließlich nickte ich, von meiner Neugierde besiegt, Dagôn zu und seufzte leise aus. Langsam glaubte ich, dass der Drache in den letzten Tagen meine Zukunft bestimmen würde. »Okay. Ich pack nur noch meine Sachen zusammen. Und dann muss ich noch meinem Großvater sagen, warum ich doch schon heu-«
»Nein. Das ist keine gute Idee. Er würde sicher versuchen, es dir auszureden.«
»Hm? Wieso denn?«
»Es wäre besser, zu gehen, ohne jemandem etwas zu sagen. Das hat fast nur Vorteile. Du solltest nur auf einen Zettel schreiben, dass du doch schon los bist. So fällt einem der Abschied nicht so schwer.«
»Na ja. Schon. Aber dann hab ich bestimmt ein schlechtes Gewissen. Mein Großvater hat mich die ganzen Jahre lang aufgezogen. Da kann ich doch nicht einfach ohne Abschied gehen.«
»Er würde es sicher verstehen. Außerdem wirst du ihn ja in wenigen Tagen wieder sehen.“
Ich sah in Gedanken versunken aus dem Fenster und überlegte einen Moment. Was der Drache mir da sagte, klang zwar ein wenig verwirrend, aber auch irgendwo wieder logisch. Wieder seufzte ich leise aus, dann nickte ich Dagôn zu und packte schnell ein paar Sachen in meinen Rucksack. Als ich damit fertig war, holte ich meine Spardose aus dem Schrank und packte den Inhalt in eine kleine Börse, die ich ebenfalls im Rucksack verstaute. Dann ging ich noch einmal schnell zu meinem Schreibtisch und kritzelte in meiner fast unleserlichen Handschrift ein paar Worte für meinen Großvater und meine Eltern auf ein leeres Papier.
Kaum war dies getan, warf ich den Rucksack mit Schwung auf meinen Rücken und sah Dagôn erwartungsvoll an.
»Ich bin reisefertig! Und wie sollen wir jetzt hier raus kommen? Wenn wir durch die Haustür gehen, kommen wir automatisch an meinem Großvater vorbei.«
»Wozu gibt es Fenster?«
»Wir sind im ersten Stock!«
»Schon vergessen? Ich bin ein Drache! Ich kann fliegen!« sagte Dagôn gelassen und hob seine Flügel etwas an. »Du könntest dich auf meinen Rücken setzten. Dann ist es kein Problem mehr!«
Meinte dieser Drache das wirklich ernst, was er da von mir verlangte? Ich sollte auf seinen Rücken steigen und darauf hoffen, dass er mich aushielt. Nun denn. Wenn er es unbedingt darauf anlegen wollte, sollte er doch haben, worum er mich bat. Langsam stieg ich auf Dagôns Rücken und klammerte mich an ihm fest.
»Pass auf. Es wird am Anfang ein wenig wackeln, aber wenn du dich gut genug fest hältst, kann dir nichts passieren.«
»Oh. Danke für die Warnung. Jetzt geht's mir schon viel besser!« antwortete ich ironisch.
»Verzeih. Aber ich bin noch kein Spitzenflieger. Ich gebe mein bestes, okay?«
Ich nickte und obwohl Dagôn es sicher nicht sehen konnte, stieg er leicht zusammengekauert, auf das Fensterbrett und stieß sich ab. Doch das erwartete Taumeln, welches ich nach seiner Warnung erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen schwebte Dagôn ruhig in der Luft und schwang nur manchmal mit seinen Flügeln.
-Ende Kapitel 4-