Am Morgen des dritten Tages war bereits die Hälfte der Strecke geschafft. Zumindest sagte dies Dagôn, als sie mal wieder eine Pause machten, um zu verschnaufen.
„Erst die Hälfte?“ Tan sah seinen Freund sprachlos mit offenem Mund an. „Aber das bedeutet ja, dass wir die restliche Strecke innerhalb einen Tages schaffen müssen.“
Der Drache senkte traurig seinen Kopf. „So sieht es aus. Aber ...“ Er hob ihn wieder und sah den Jungen mit hoffnungsvollem Blick an. „... immerhin haben wir schon die Hälfte geschafft. Und ... und das ist doch eigentlich schon total gut. Weil ...“ Der Drache setzte sich auf seine Hinterbeine und sah in den Himmel. „Jacc meinte doch, dass man für den Weg doch eigentlich 15 Tage braucht. Da sind wir mit den drei Tagen doch echt gut. Meinst du nicht auch?“
Tan stocherte lustlos mit einem Stock im Boden herum und lies sich dann nach hinten fallen. „Doch schon. Aber das hilft uns auch nicht weiter. Was nützt es uns denn, wenn wir die Aufgabe nicht in geforderter Zeit schaffen.“ Ein paar Minuten lang blieb er so liegen und starrte in den nächtlichen Himmel. Schließlich schleuderte er den Stock von sich und richtete sich dann wieder vollständig auf. „Aber wenn dieser blöde Kerl nun denkt, dass ich deswegen aufgebe ...“ Er verband sich wieder die Augen und grinste den Drachen blind an. „... dann hat er sich schwer getäuscht! Los, Dagôn, laufen wir weiter!“
Erst das Knurren seines Magens lies ihn wieder langsamer werden. Doch anstatt ganz anzuhalten, biss er sich auf die Zähne und versuchte das Knurren zu ignorieren. Indessen hatte er eine recht stabile Verbindung zu Dagôn aufgebaut. So stark, dass er den Weg nun sogar schon durch die Augen des Drachen sehen konnte. So ließ er ihn über sich schweben, ohne das Wort nötig waren. Und wenn er sich vollkommen darauf konzentrierte, sah er sogar die kleinen Steine und Tiere, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung befanden. Doch da ihn dies noch zu sehr anstrengte, lies er es recht schnell wieder sein.
Als es in seinem Bauch wieder mal rumpelte, bemerkte er, dass Dagôn besorgt zu ihm sah. Dadurch bemerkte er den Ast vor sich nicht und fiel.
Fluchend stemmte er sich auf seine Knie.
Bleib oben. Ist schon gut. Trotz verbundener Augen warf er seinen Blick nach oben zu seinem Freund und schien ihn selbst durch die Augenbinde zu sehen. Oder viel mehr zu spüren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich alle anderen Sinne vollkommen auf die Umgebung konzentrierten. nicht nur, dass er mit den Augen des Drachen sah. Er spürte, dass sich unter ihm irgendein kleines Tier durch den Boden grub, dass nicht weit von hier ein anderes gerade frisch erlegte Beute fraß und noch viele andere Dinge, die ihm bis eben noch nicht aufgefallen waren.
Doch gleichzeitig überfiel ihn mit einem Mal eine seltsame Mutlosigkeit. Er senkte seinen Kopf und starrte blind in die Finsternis. Im Hintergrund den besorgten Blick von Dagôn spürend, fragte er sich, was dies hier eigentlich bringen sollte. Weder hatte er Kraft, noch Zeit, diese Aufgabe wie gewünscht zu erfüllen. Jeder Meter, den er zurücklegte, lies seine Beine schwerer und seine Kraft schwächer werden. Wie sollte er also die restliche Strecke in so kurzer Zeit schaffen.
Zweifel kamen in ihm hoch, ob er Dagôn wirklich helfen könnte oder ob er es überhaupt zum Daccar schaffen würde. Was ist, wenn er die Prüfung am Ende der Woche nicht besteht. Was, wenn er mit Dagôn gar nicht die nötige Verbindung zur purpurnen Perle hin bekäme. Was, wenn ... Tan grub seine Finger in den Boden und wusste nicht mehr weiter. Die ganzen letzten Tage war ihm dies alles mehr, wie ein Traum vorgekommen. Einfach drauf los. Irgendwie würde es schon werden. Doch so langsam erwachte er aus diesem Traum. Langsam begriff er, dass da viel mehr dahinter steckte, dass mehr gefordert wurde, als er aufbringen konnte.
Als er nun bemerkte, wie eine Träne seine Wange herunter lief, spürte er, dass Dagôn direkt vor ihm saß und ihn schweigend ansah. Der Drache war aus der Verbindung verschwunden. Nicht verloren. Eher hatte er sie gewollt beendet, um seinen Freund nicht zu verletzen.
„Dagon.“ flüsterte er nun. „Können wir das überhaupt schaffen?“
Der Drache sah seinen Freund eine Weile stumm an. Dann lächelte er den Jungen zärtlich an und nickte schließlich. „Bestimmt.“
„Aber es wirkt auf mich plötzlich so unmöglich. Ich meine. Wir wissen nicht, was uns erwartet und was wir ...“
„Wer weis das schon? Ich glaube kaum, dass das jemand sagen kann. Aber wenn wir nichts tun, werden wir das auch nie erfahren. Meinst du nicht auch?“
Tan nahm seine Augenbinde ab und blickte den Drachen in die Augen.
„Ich weis zum Beispiel nicht, was Jacc mit uns anstellt, wenn wir hier noch weite so herum sitzen, anstatt weiter zu laufen.“ Dagôn rieb sich seine Nase grinsen. „Ich kann es mir zwar irgendwie ganz gut vorstellen. Aber Um ehrlich zu sein, bin ich nicht scharf darauf, dies herauszufinden. Und du?“ Der Drache grinste nun breit und entblößte dabei seine Zähne, was mehr, wie eine Grimasse als alles andere wirkte.
Zumindest lächelte Tan daraufhin wieder. „Nein. Bin ich auch nicht. Aber ob uns seine Belohnung nun hier erwartet, oder ein paar Kilometer weiter...“ Er seufzte laut aus und lies seine Schulter hängen. „Ich hab absolut keine Kraft mehr. Wirklich. Ich glaube, wenn ich noch einen Schritt gehe, sterbe ich.“
„Ach was. Jacc meinte doch mal, dass Halbdrachen scheinbar unerschöpfliche Energie haben. Er und noch ein paar andere sollen mal in nur einer Woche ohne Verschnaufpause bis nach Abengaro gelaufen sein.“
„Ach ja? Mir kommt das aber gerade nicht so vor, als wenn meine Energie unerschöpflich wäre. Und ich bin doch ein Halbdrache ... oder?“
Dagôn sah seinen Freund nachdenklich an. „Doch schon. Zumindest hast du ...“ Der Drache hielt inne. Dann schlug er plötzlich seine rechte Pranke an die Stirn. „Ja klar! Du bist ja noch in der ersten Form. Das muss es sein! Du musst dich einfach nur in die zweite Form verwandeln. Dann müsstest du wieder Kraft haben.“ Dagôn grinste seinen Freund erwartungsvoll an. Doch dieser hob nur seine Augenbraue und betrachtete ihn irritiert.
„Ich muss was tun?“
„Pass auf! Ihr Halbdrachen könnt euch doch vollständig in Drachen verwandeln. Das hab ich schon mal bei Jacc gesehen. Aber bis dahin gibt es mehrere Stufen. Die erste Stufe ist die, die du jetzt gerade hast. Dann gibt es die Stufe, wo du deine Flügel draußen hast. Und dann gibt es zwischen der und der Drachenstufe noch eine. Und die müsste es sein. Du musst also nur noch eine Stufe nach deinen Flügeln schaffen. Los! Versuch es doch mal!“ Der Drache sah ihn nun mit freudiger Erwartung an. Tan jedoch wusste noch immer nicht, was da von ihm erwartet wurde.
„Ganz einfach.“ Meinte der Drache. „Hol mal deine Flügel raus. Dann sehen wir schon weiter.“
„Hmm.“ Tan wusste zwar nicht, was das bringen sollte, aber schließlich fügte er sich. Wenige Sekunden später saß er mit seinen Flügeln da und suchte sein Gleichgewicht. Als er es wieder hatte, sah er seinen Freund fragend an. „Und nun?“
„Nun musste du dich weiter konzentrieren oder so. Weis nicht. Ich hab Jacc nie gefragt, was er macht, um die nächste Stufe zu erreichen.“
Tan sah Dagôn grummelnd an. „Weiter konzentrieren. Du bist gut. Aber mal sehen“ Er sank etwas zurück und versuchte sich darauf zu konzentrieren. Auch wenn er nicht wusste, worauf eigentlich. Als ihm nichts einfiel, konzentrierte er sich einfach auf seine Flügel. Doch da passierte nichts.
Seufzend sackte er noch etwas zusammen.
Mich konzentrieren. Auf was soll ich mich denn konzentrieren? Halbdrache? Hmm. Nein. Die Flügel sind es auch nicht. Vielleicht... Er schloss seine Augen und versuchte sich vorzustellen, wie er sich in einen Drachen verwandeln könnte. Denn Dagôn meinte ja, dass Halbdrachen dies konnten. Ein leichtes Stechen durchfuhr ihn. Doch das verschwand genauso schnell, wie es aufgetaucht war. Wieder seufzte er aus und öffnete seine Augen, um Dagôn nach einer Idee zu fragen. Doch dieser starrte ihn nur mit weit geöffneten Augen an.
„Ich wusste es!“
-Ende Kapitel 11-