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Jeden Tag nach der Arbeit radelt Stefan Löb von seiner Wohnung in
Wieblingen fünf Kilometer an die Jet-Tankstelle nach Heidelberg,
Dosenbier kaufen. Das macht er immer nach halb sechs Uhr abends, wenn er
seine orangefarbene Uniform ausgezogen hat, die er als Müllmann bei den
Heidelberger Stadtbetrieben trägt. Zum Abendbrot kauft er sich an einem
Stand ein Grillhuhn oder ein Stück Pizza, dann radelt er zur
Tankstelle, jeden Tag.
An einem heißen Sommerabend vor acht Jahren
aber ist etwas anders als sonst: Eine zerzauste Katze, mehr ein
Kätzchen, sitzt unter einem Baum neben der Tankstelle und schreit. Sie
sollte Stefan Löbs Leben für immer verändern.
Er hat an diesem Mittwoch im Jahr 2004 vier
Warsteiner im Jutebeutel, aber statt nach Hause zu fahren, folgt er dem
Geschrei bis hinter die Autowaschanlage, dahinter liegen die Gleise der
Bundesbahn: Die Katze hat schwarzes, schmutziges Fell, sie ist sehr
dünn. Als sich Stefan Löb nähert, flüchtet sie. Er aber bleibt stehen.
Bis heute kann er nicht sagen, was es war - aber etwas lässt ihn
innehalten. Er dreht sich um und geht in den Kölle-Zoo gegenüber:
Katzenfutter kaufen.
Er stellt ihr eine Aluminiumschale unter den
Baum. Als er am nächsten Tag wiederkommt, ist sie leer. Er kauft eine
neue, die Katze zeigt sich nicht, aber tags darauf ist die Schale wieder
leer. Er kauft wieder eine. »Ich wollte so gern, dass sie kommt«, sagt
er.
Stefan Löb ist ein stiller, bedächtiger Mann
mit freundlichen, wasserblauen Augen, 35 Jahre alt. In seiner
Zwei-Zimmer-Wohnung stehen ein Bett, ein Fernseher, acht Jahre alt, der
Kühlschrank in der Küche ist leer. Nach der Sonderschule hat er eine
Ausbildung als Maler und Lackierer angefangen, aber der Betrieb ging
pleite. Vor sieben Jahren ist er bei der Müllabfuhr untergekommen,
darüber ist er froh. Er hat nicht viele Freunde und auch keine Freundin,
»ich bin zu oft enttäuscht worden«, sagt er. Das war nicht immer so.
Als er jung war, auf Techno-Partys ging und noch einen Führerschein
besaß, fragten ihn viele: »Kannst du mich im Auto mitnehmen?« Seine
verblassten Totenkopf-Tätowierungen auf dem Arm zeugen noch von dieser
Zeit. Dann aber hat er ein Bier zu viel getrunken und seinen
Führerschein verloren. Bis heute hat er sich nicht darum bemüht, ihn
wiederzubekommen. Jetzt meldet sich keiner mehr von den alten Bekannten.
Auch Hobbys hat er nicht, nein.
Stefan Löb stellt der Katze immer wieder Futter
hin, jeden Tag, auch am Samstag und Sonntag, eine Woche lang, zwei,
drei, fünf. Es dauert Monate, bis sie Zutrauen fasst, bis sie nicht
fortläuft, wenn sie ihn sieht. Sie beißt, kratzt und faucht jeden an,
der sich ihr nähert, sie hat sogar mal einen großen Hund angefallen,
erzählen die Mitarbeiter der Tankstelle. Ihre Schwanzspitze zittert, sie
traut niemandem. Keiner weiß, was ihr widerfahren ist.
Heute aber, acht Jahre später, wartet sein
»Mädele« – so nennt er sie – schon auf ihn, wenn Stefan angeradelt
kommt. Er ist der Einzige, der sie berühren darf: Sie wirft sich ihm ans
Bein, springt auf seinen Schoß – das macht ihn stolz. Er steckt sie
unter seine Jacke, dort hat sie es warm. Er macht ihr erst eine
Aluminiumschale auf, dann gibt es eine Portion Trockenfutter. Manchmal
mischt er ihr Eigelb unter das Fleisch, für glänzendes Fell.
Er bleibt zwei Stunden, immer, bei Regen,
Schnee und Eis, an Weihnachten, Silvester, an seinem Geburtstag. Die
Angestellten der Tankstelle sagen: »Der Stefan kommt jeden Abend, du
kannst deine Uhr danach stellen – der lässt seine Katze nicht allein.«
Warum er die Katze nicht mit nach Hause nehme, fragen ihn die Leute.
Aber im Kölle-Zoo haben sie ihm abgeraten: Eine wilde Katze in einer
Wohnung, nein, das gehe nicht, sie war ja noch nie in einem
geschlossenen Raum. »Vielleicht hätte ich sie daran gewöhnen können, als
sie noch klein war und ich sie gefunden habe. Aber da ließ sie sich von
keinem berühren.«
Er hat sich aus Pflastersteinen eine Bank
gebaut und für die Katze eine Isomatte auf den Boden gelegt, damit sie
nicht friert, wenn sie auf ihn wartet. Er hofft, dass die Menschen mit
ihren Autos auf dem Tankstellengelände langsam fahren und nicht aus
Versehen seine Katze erwischen. Als er mal ins Krankenhaus musste wegen
seines Rückens, bat er seinen Bruder, ihr Futter hinzustellen. Sogar an
Silvester, als er bei seinem Bruder eingeladen war, entschuldigte er
sich, er sei in zwei Stunden wieder da, er müsse noch zur Katze. Sie
gibt ihm zurück, was sie geben kann: Einmal hat sie ihm eine Maus
gefangen.
Die Katze ist zu Stefan Löbs Lebensaufgabe
geworden. »Man muss die Dinge des Lebens so nehmen, wie sie kommen«,
sagt er. In drei Jahren aber wird die Tankstelle abgerissen. Das macht
ihm jetzt schon Sorgen. Dann wird er die Katze vielleicht doch mit nach
Hause nehmen müssen. Vielleicht kann sie sich im Alter daran gewöhnen,
in einer Wohnung zu leben. Aber bis dahin ist zum Glück noch Zeit.
Für heute hat er sie genug gestreichelt. Er
radelt nach Hause, Dosenbier am Lenkrad. Im Wohnzimmer schaltet er den
Fernseher ein: Kabel 1, Abenteuer Leben, das sieht er gern.