Crowley ärgerte sich über sich selbst und sein Unvermögen, eine einfache Aufgabe zu lösen. Stattdessen hatte er mal wieder sein Talent, in Schwierigkeiten zu geraten, eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Sowas konnte doch wirklich nur ihm passieren.
Am Morgen war alles noch in bester Ordnung gewesen. Der Lord persönlich hatte ihn, den jüngsten Drachen im dunkelfürstlichen Turm, zu sich gerufen und ihm eine wichtige Aufgabe übertragen.
"Crowley, du bringst diese Nachricht zur Gildenhalle der Dragon Wings, man wartet schon darauf. Flieg sofort los, keine Umwege, kein Trödeln und vor allem eins: Verlier die Botschaft nicht, es bleibt keine Zeit, noch eine neue zu senden."
Mit diesen Worten händigte der Fürst dem jungen Drachen eine Ledertasche mit stabilem Riemen aus. Crowley war ganz aufgeregt, versuchte aber, cool und abgeklärt zu wirken.
"Jawoll Chef," sagte er mit fester Stimme, "Botschaft in der Halle der Dragon Wings abgeben, kein Problem, ich mache mich sofort auf den Weg, ich bin schon weg ..."
"Drache!" brummte der Fürst, "Vermassel es nicht!"
Die Stimme des Fürsten klang sanft und ruhig, aber Crowley erkannte durchaus den Unterton, der im Versagensfalle Konsequenzen verhieß, die er lieber nicht erleben wollte.
Wenige Minuten später war er bereits in der Luft, nutzte die Thermik, um sich weit nach oben zu schrauben und schlug die Richtung zur Halle der Dragon Wings ein.
Anfangs lief auch alles prächtig, er kam gut voran und war guten Mutes, sein Ziel noch im Laufe dieses Tages zu erreichen, doch seine Unerfahrenheit mit Langstreckenflügen führte zu einem fatalen Fehler.
Crowley unterschätzte die Schlechtwetterfront vor sich und flog so mitten in den stärksten Sturm hinein, den er jemals erlebt hatte. Selbst größere, erfahrenere Drachen als er hätten dieses Sturmtief weiträumig umflogen oder wären lieber gelandet um das Unwetter in Sicherheit abzuwarten.
So kam es, wie es kommen musste: Statt majestätisch am Himmel entlang zu gleiten, wurde der junge Drache wie ein welkes Blatt im Herbstwind umhergewirbelt, bis er nicht mehr wußte, wo oben und unten war.
Zu allem Überfluss riss ihm eine starke seitliche Bö auch noch die Tasche mit der wichtigen Botschaft und seiner Wegzehrung vom Hals. Fassungslos blickte er der davonwirbelnden Tasche nach, die irgendwo tief unter ihm zwischen den Baumwipfeln des dichten Waldes verschwand. Umgehend setzte der mutige junge Flieger zu einem Sturzflug an, um seine wertvolle Fracht zu retten, doch in diesem unheilvollen Sturm wurde er viel zu schnell und krachte wie ein Metfass, das vom Turm fiel, ins Gehölz, das offenbar sehr viel näher war, als er dachte. Eine Rotte Wildschweine in der Nähe flüchtete laut quiekend ins Unterholz.
"Ein Glück, dass das niemand gesehen hat!" fauchte Crowley auf drachisch, erhob sich wieder und schüttelte kurz den Kopf. Zwar schmerzte sein Körper überall, selbst an Stellen, von denen er bisher nicht gewußt hatte, dass es sie gab, aber er war nicht ernsthaft verletzt. So verbrachte er die nächsten Stunden damit, diese vermaledeite Tasche zu suchen und tatsächlich entdeckte er sie schließlich im Geäst einer jungen Buche. Grummelnd zerrte er sie herunter und hängte sie sich wieder um den Hals.
"Vermassel es nicht!" hatte der Lord gesagt.
Und Crowley war gerade auf dem besten Wege, es zu vermasseln. Er blickte nach oben, das Unwetter liess bereits wieder nach, doch die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten, in Kürze würde es völlig dunkel sein. So beschloß er, an diesem Abend nicht mehr weiter zu fliegen, sondern den Turm aufzusuchen, dessen Silhouette er gegen den sich immer mehr verdunkelnden Himmel gerade noch ausmachen konnte. Dort würde er anklopfen und die Bewohner um ein einfaches Nachtlager bitten. Am frühen Morgen würde er dann losfliegen, um seinen Auftrag zu vollenden.
Nach wenigen Flugminuten hatte er den Turm erreicht und schalt sich wieder einen Narren, denn das alte Gemäuer war seit langem nicht mehr bewohnt, sondern verfiel zusehends. Es schien offenbar nur noch vom Efeu zusammengehalten zu werden, der es überall umrankte. Doch was sollte er machen? Es war zu spät und viel zu finster, jetzt noch irgendwo eine bewohnte Drachenzüchterresidenz zu suchen, also trat er durch das Eingangstor, dessen Torflügel nur noch lose in den Angeln hingen, und stieg vorsichtig die Treppe hinauf, die zum Drachenbereich führte. Vielleicht war ja noch die eine oder andere künstliche Schlafhöhle benutzbar. Die Architektur der Drachentürme war landesweit nahezu identisch, so dass man sich auch in fremden Türmen schnell zurechtfand.
Schnell hatte Crowley allerdings auch entdeckt, dass der Drachentrakt bereits zu stark verfallen war. So wandte er sich dem Menschenbereich zu.
Schließlich fand er auch einen Raum, der immerhin noch drei Wände und eine nahezu vollständige Decke aufwies. So zog er sich in eine Ecke zurück, wo er vor dem prasselnden Regen geschützt war. Nur dieses unheimliche Stöhnen und Jaulen hier unten im Menschentrakt machte ihn unsicher und etwas nervös. War das so üblich bei Menschen? Er kannte sich nur wenig mit diesen Zweibeinern aus, sein Herr und dessen Gefolge waren schließlich Dämonen, und die hatten zum Teil schon recht eigenartige Angewohnheiten.
Gelegentliche Blitze erhellten den Raum für Sekundenbruchteile, und so entdeckte Crowley einen schmalen Durchgang zum Nachbarraum. Hmm, dort könnte es vielleicht noch trockener sein als hier, dachte Crowley und spähte vorsichtig durch die schmale Öffnung in der Wand, wo einst eine Tür gewesen war. Zunächst konnte er überhaupt nichts erkennen, doch er hörte jetzt, dass das Stöhnen offenbar aus diesem Nebenraum stammte. Er riß die Augen weit auf, um etwas in der Finsternis erspähen zu können, als ein Blitz in unmittelbarer Nähe den Raum kurz in gleißendes Licht tauchte ...
Crowley schaffte es, mit einem einzigen Satz rückwärts in die hinterste Ecke seines Raumes zu springen, kauerte sich vor Angst zusammen und legte seine Flügel wie einen schützenden Mantel um sich.
Da drüben war ein Monster!
Ein Ungeheuer mit vielen gelb glühenden Augen, einem unförmigen Kopf mit Hörnern, die zu allen Seiten abstanden ... und ... nein, mehr wollte er eigentlich gar nicht darüber erfahren. Und es stöhnte und jaulte auch noch. Crowley hatte das Gefühl, sein Herz sei ihm den Hals hinaufgerutscht und schlüge jetzt direkt unter seiner Kehle. Er schluckte zweimal kräftig, was sein Herz offenbar wieder an seinen angestammten Platz zurück beförderte.
Mist, er hatte Angst, dass ihm die Flügelspitzen so zitterten, dass er aufpassen musste, nicht aus Versehen abzuheben. Zum Glück schien das Ungeheuer ihn noch nicht bemerkt zu haben, denn es jaulte weiter vor sich hin, ohne Antalten zu machen, herüberzukommen und ihn zu fressen. Crowley analysierte kurz die Lage und entschied, lieber hier zu bleiben und das Monster während der Nacht im Auge zu behalten, als wieder nach draußen zu gehen und sich dort so naß, zerschunden und mit Rissen in den Flügeln, wie er gerade war, im strömenden Regen die Nacht um die Ohren zu schlagen.
Er war zwar mittlerweile todmüde, doch so ein Monstrum in unmittelbarer Nähe, das verhinderte doch irgendwie die nötige Bettschwere. Aufmerksam fixierte er den schmalen Durchlass in der Wand, bereit, sofort mit aller Wucht über alles herzufallen was dort hindurch kommen würde.
Ein weiterer Blitz gab noch einmal den Blick in den Nachbarraum frei. Das Ungeheuer hockte noch immer an derselben Stelle und jaulte wie eine Banshee auf Steroiden vor sich hin.
Ok, er konnte das Monster auch im Liegen beobachten, so rollte er sich in seiner Ecke zusammen, den Kopf immer noch auf die Tür gerichtet, die Augen weit offen.
Etwas später schien es ihm auch ausreichend, ein Auge offen zu halten, es war ja schließlich auch nur ein Monster.
Noch etwas später gesellte sich zum mönsterhaften Stöhnen und Jaulen ein lautes drachisches Schnarchen hinzu...
... ruckartig fuhr der junge Drache hoch, er musste tatsächlich kurz eingenickt sein. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass strahlendes Sonnenlicht die verfallenen Räume des alten Turmes erhellte. Puh, er hatte diese schreckliche Nacht tatsächlich überlebt. Was mochte wohl aus dem Ungeheuer geworden sein? Zumindest hatte es aufgehört zu jaulen, man hörte nichts mehr außer dem morgendlichen Zwitschern der Vögel draußen.
Vorsichtig schlich er sich zum schmalen Durchgang und spähte in den Nachbarraum ...
"Bei Luzifers Hirnerweichung!" entfuhr es ihm in Menschensprache. Diesen Fluch hatte er so oft vom Lord gehört, dass er mittlerweile in seinen eigenen Sprachgebrauch übergegangen war.
Nun sah er das Monster bei Tageslicht und konnte es nicht fassen. Sein eigenes Gesicht in den Facetten eines zersprungenen alten Wandspiegels hatte ihn die ganze Nacht in Angst und Schrecken versetzt. Und dazu wehte jetzt ein sanftes Lüftchen durch ein Loch in der Außenwand des Raumes, wo in der Nacht noch der Sturm durchgeheult hatte.
"Ich bin doch ein blöder Schuppenlurch!" schimpfte der junge Drache weiter und schüttelte unwillig den Kopf, "Wenn das die anderen erfahren, bin ich das Gespött unseres Turmes..."
Trotz seiner Schimpftirade fühlte Crowley sich erleichtert, das Abenteuer einigermaßen glimpflich überstanden zu haben. So zog er aus seiner Ledertasche ein Stück Trockenfleisch, auf dem er zum Frühstück herumkaute, und machte sich dann wieder auf den Weg zur Gildenhalle der Dragon Wings.
"Oh nein, Eure Lordschaft, diesen Auftrag vermassele ich bestimmt nicht." fauchte er vergnügt in Drachensprache.
Der Inhalt der wichtigen Botschaft:
"Die H-K gibt sich die Ehre, ihre III. Mannschaft zum Jugendturnier anzumelden. Ansprechpartner ist seine Lordschaft persönlich.
Mit drachischen Grüßen
Lorddark59"